Charaktere (Evangelikale, Historiker, Legenden)

Die Figuren aus den Evangelien


Die Hauptfigur der Gründonnerstagsprozession ist eindeutig Jesus Christus, der auf seinen Schultern die klassische crux immissa trägt. In Mendrisio ist es Brauch, die Identität der Person (die zwischen 30 und 40 Jahre alte sein muss), die diese Rolle verkörpert, mit dem Gesicht von einem dichten Bart verdeckt und der mit einer Dornenkrone besetzten Stirn, geheim zu halten. Früher war es Tradition, dass Christus von einem "bekehrten Sünder, der vom Prior der Bruderschaft des Allerheiligsten Sakraments gewählt wurde", verkörpert wurde, und dass der Auserwählte beichten musste, sich bekennen musste und sich nach der Prozession in den Wald im Gebiet von Selvetta zurückziehen musste. Laut Evangelien ging Simon von Cyrene auf der Via Crucis neben Jesus und half ihm, das Kreuz bis auf den Berg Golgota zu tragen, und beim Aufstieg auf den Kalvarienberg waren auch die Drei Marien dabei, also die Muttergottes (in der Prozession in Mendrisio normalerweise in der Mitte), Maria aus Magdala oder Magdalena (links) und Maria des Klopas oder Klophae (rechts). Bis Ende des 19. Jahrhunderts übernahmen drei vollständig schwarz gekleidete Männer mit bedeckten Gesichtern die Rollen der frommen Frauen und nahmen schluchzend an der Prozession teil. Vor der Gruppe um Christus gingen die Krieger des Hohenrats, hinter ihm der jüdische Mob, der die Verurteilung und Hinrichtung Jesu forderte (auch wenn die Schreie "Tötet ihn! Tötet ihn!" erst in jüngerer Zeit hinzugefügt wurden). Die Hebräer, dargestellt mit grotesken Zügen und Bewegungen, stellen die Menge dar, die zusammengeströmt war, um der Kreuzigung beizuwohnen, aber auch die Menge, die sich vor dem Gerichtssaal versammelte und sich aufgestachelt von den Hohenpriestern entschied, die Freilassung des Barabbas zu fordern. Den Abschluss der Gruppe bilden die beiden Schächer, bei denen man den guten nicht von dem bösen unterscheiden kann. Sie bewegen sich im Laufschritt hüpfend vorwärts, sind angekettet und ihre blossen Füsse sind mit Wunden bedeckt.

Die historischen Figuren


Die römischen und hebräischen Autoritäten, die in anderen wichtigen Momenten der Passionsgeschichte die Hauptpersonen sind, laufen nach den Würfelspielern, also den Soldaten, die um das ungeteilte Gewand Jesu spielten.

Während des Umzugs werden die grossen Würfel bei jeder Pause, die die kleine Gruppe einlegt, um das Gewand Christi geworfen. Die ersten hohen Hebräer, die in der Prozession laufen, sind Anna (oder Anània), Oberster Hohepriester von 6 bis 15 nach Christus, und sein Schwiegersohn Kaiphas, der von 18 bis 36 nach Christus ebenfalls Oberster Hohepriester war, also die beiden einflussreichsten Personen des Hohenrats und diejenigen, die die Bewohner Jerusalems aufhetzten, um zu erreichen, dass Christus vor dem römischen Richter zu Tode verurteilt wurde.

Es folgt, begleitet von der Roten Standarte, dem Symbol der kaiserlichen Erhabenheit, Pontius Pilatus, der 5. Statthalter von Judäa von 26 bis 36 nach Christus. Gemäss einer mittelalterlichen Tradition, die auch in einigen Gemälden aus späteren Jahrhunderten erkennbar ist, trägt Pilatus an der Parade in Mendrisio Kleidung im orientalischen Stil und nicht die eines römischen Amtsträgers. Aus Furcht vor der Reaktion des Kaisers Tiberius und den Tumulten, die von der vom Hohenrat aufgestachelten Menge verursacht wurden, liess Pilatus zu, dass man Jesus zum Tod am Kreuz verurteilte.

Die Verurteilung Christi wird am Anfang des Umzugs durch den römischen Soldaten namens Sentenza (Urteil) verkörpert; es handelt sich um einen Fantasienamen, der aber der Funktion entspricht; er trägt einen Speer, der von einem Adler mit der Inschrift S.P.Q.R. überragt wird und hat die Aufgabe, den titulus, also den Grund für die Verurteilung zum Tode anzugeben, im Falle von Jesus ein Schild mit dem Akronym I.N.R.I. (Iesus Nazarenus Rex Iudeorum), das traditionell über dem Kreuz festgenagelt wird.

Der lange, von Pagen getragene Mantel, die Krone und das Zepter sind die Attribute, die König Herodes auszeichnen. Es handelt sich eindeutig um Herodes Antipas, auch wenn diese Figur oft mit dessen Vater Herodes der Grosse verwechselt wird, der das Blutbad der unschuldigen Knaben anordnete, um zu verhindern, dass die Prophezeiung von der Ankunft des Messias sich bewahrheitete. Herodes Antipa, Vierfürst von Galiläa und Perea, verhörte und verhöhnte Jesus, der ihm gegenüber stumm blieb und daraufhin zu Pilatus zurückgebracht wurde.

Die Darstellung endet schliesslich mit zwei Figuren, die in den Episoden nach dem Tode Christi wichtige Rollen spielen, Joseph von Arimatäa und Nikodemus, die jedoch nicht beim Kreuzweg dabei waren. Diese beiden, insgeheim Anhänger von Jesus, tragen Amphoren, die an diejenigen erinnern, die laut Evangelien ein Gemisch aus Myrre und Aloe enthielten, das in den Bestattungsriten verwendet wurde und das dazu dienen sollte, den Leichnam des Messias für die Bestattung vorzubereiten.

Die legendären Figuren


Die legendären Figuren, die an der Gründonnerstagsprozession teilnahmen, sind das Besondere an der Funziun di Giüdee; sie lassen sich in zwei Kategorien einteilen: diejenigen, die in den Apokryphen erwähnt werden und so Einlass in die Volkstradition fanden und diejenigen, die die Bewohner von Mendrisio frei erfunden haben

Aus den Apokryphen aus dem Mittelalter (wie der Legende mit dem Titel Mors Pilati) stammt beispielsweise die Figur der Veronika, eine der frommen Frauen, die das Antlitz Jesu trocknete, dessen Züge auf dem Tuch zu sehen waren, das sie während er ganzen Darstellung zeigt; in Wirklichkeit verweist der Name der Frau auf das Objekt, das sie trägt, die «vera icona», das echte Abbild des Antlitzes Christi.

In den Apokryphen (genauer gesagt im Nikodemus-Evangelium oder in den Akten des Pilatus) kommt hingegen der römische Soldat Longinus vor, der der Gruppe um Christus vorausgeht und der mit seiner Lanze den Brustkorb Jesu durchbohrt haben soll, um sich zu vergewissern, dass er tot ist.

Weitere Figuren sind vollkommen erfunden. So Ungino, der römische Soldat, der Jesus mit einem Seil, das an das Kreuz gebunden ist, hinter sich her zieht und als Peitsche einen blühenden Pfirsichzweig in der Hand hält. Oder der Junge, der den Becher trägt, der dem Messias beim Aufstieg auf den Kalvarienberg zu trinken gibt und der an die damals übliche, auch im Markus- und Matthäusevangelium erwähnte Tradition erinnert, dass man den zum Tode Verurteilten ein Gemisch aus Wein und Myrre verabreichte, um sie in Anbetracht des schrecklichen Leidens der Kreuzigung zu betäuben.

Hingegen handelt es sich bei dem Axtträger vermutlich um eine volkstümliche Erfindung, beruhend auf der Figur des Meisters der Justiz (der Scharfrichter), der vielleicht während der Zeiten der italienischen Feldzüge (Baliaggi italiani) an dem Umzug teilnahm. Es gibt auch keinerlei historisches Vorbild für die beiden hebräischen Jungen mit Nägeln und Hämmern (eine Anspielung auf die Kreuzigung), die den Umzug eröffnen, die beiden Kreuzträger, die die Schächer begleiten und die Mohren, geschmückt mit Ohrringen und Turbanen, die von dem türkischen Halbmond überragt werden, die auf naive Art den prunkvollen orientalischen Hofstaat des Herodes darstellen, zu dem auch ein Hohepriester gehört, erkennbar an den Gesetzestafeln, die er trägt, der aber eine offensichtliche Nachahmung ist.

Kurz vorher sind nämlich Kaiphas, der in den Jahren, in denen die Kreuzigung Jesu stattfand, das Amt des Obersten Hohepriesters innehatte, und sein Vorgänger Anna deutlich zu erkennen.

Die rätselhafteste Person von allen ist der Reiter namens Nascia, der direkt hinter der Gruppe um Christus vorbeizieht. Nascia - diese Figur ist sowohl in den Evangelien als auch im Volksmund unbekannt - reitet zu Pferde, begleitet von einem Kind, dass ihm an der Lende hängt und das einen versilberten Stein in der Hand hält. Die einzige Hypothese, die man als Erklärung für die Teilnahme dieses seltsamen Paares fand, war, dass der Junge einen der vielen Strassenjungen verkörperte, die Steine auf die zum Tode am Kreuz verurteilten warfen, die in Richtung Kalvarienberg durch die Strassen Jerusalems zogen.